Leitantrag "für gute, menschenwürdige, gerecht entlohnte Erwerbsarbeit"

beschlossen am Diözesantag in Freising am 6. Juli 2013

Für gute, menschenwürdige, gerecht entlohnte Erwerbsarbeit!
"Prekäre Arbeitsverhältnisse sind auf längere Sicht eine Bedrohung für die ganze Gesellschaft. Sie sind ein ethischer und sozialer Notstand."


Papst Benedikt XVI, 2008

Die Arbeitswelt in Deutschland wandelt sich grundlegend. Das Versprechen des sozialstaatlich regulierten Kapitalismus, wonach ein Normalarbeitsverhältnis die Grundlage für gesicherte Lebensverhältnisse bildet, gilt für Viele heute nicht mehr. Noch arbeitet zwar die Mehrheit der Beschäftigten in Deutschland in einem so genannten "Normalarbeitsverhältnis", also in einer unbefristeten Vollzeitbeschäftigung, deren Lohn für die Existenzsicherung reicht. Allerdings steigt der Anteil an "atypischen" und "prekären" Arbeitsverhältnissen rasant. Zu diesen zählen Leiharbeit, befristete Beschäftigung, Minijobs, Projektbeschäftigte, in Werksverträgen Beschäftigte, sowie Schein- und Soloselbständigkeit – nicht zu vergessen auch das "Praktikantenunwesen". Ein großer Teil der neuen Stellen, die in den letzten zehn Jahren geschaffen wurden, sind in diesen Bereichen entstanden. Während die Zahl der Erwerbstätigen von 37,7 Mio. im Jahr 1994 auf 41,6 Mio. Personen im Jahr 2012 gestiegen ist, ist das Arbeitsvolumen, die Gesamtzahl der geleisteten Arbeitsstunden im gleichen Zeitraum von 58,2 Mrd. Stunden auf 58,1 Mrd. Stunden gesunken. Gesamtwirtschaftlich fand also eine Umverteilung der Arbeit auf eine deutlich größere Anzahl von Erwerbstätigen durch Arbeitszeitverkürzung statt. Das heißt aber auch: Die Zunahme an Beschäftigung ist in den letzten Jahren mehrheitlich auf den Anstieg von atypischen Arbeitsverhältnissen zurückzuführen. Vor allem die Zahl der Leiharbeiter wächst dynamisch. Gerade die Finanz- und Bankenkrise der vergangenen Jahre zeigte, dass Leiharbeitnehmer von konjunkturellen Schwankungen besonders stark und schnell betroffen sind.
Für alle atypischen Arbeitsverhältnisse gilt: In ihre berufliche Zukunft wird wenig investiert. Die Teilnahme an Weiterbildungskursen ist über alle atypischen Beschäftigungsformen hinweg deutlich niedriger als bei Normalarbeitnehmern. Auch sind bei den atypischen Arbeitsverhältnissen prekäre Arbeitsbedingungen weit verbreitet. Das heißt: Der Lohn kann die Existenz vielfach nicht sichern. Die soziale Absicherung und die üblichen Arbeitnehmerrechte sind sehr eingeschränkt. Im Unternehmen stehen atypisch Beschäftigte am Rand.
Unsere Befürchtung ist, dass unter den Bedingungen des Wettbewerbs eine neue Dynamik entsteht, welche die Arbeitswelt noch grundlegender verändert, ein hohes Maß an Verunsicherung in die Gesellschaft trägt und für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine Erschwerung der Lebensplanung bedeutet.
Als Katholische Arbeitnehmer Bewegung ist es unser Auftrag, die Entwicklungen des Arbeitsmarktes darauf hin zu hinterfragen, ob der Mensch sich durch die Arbeit verwirklichen kann oder durch die Bedingungen der Arbeit erniedrigt wird. Wir sind verpflichtet, die Stimme zu erheben, wenn sich Arbeitsverhältnisse zu Lasten des arbeitenden Menschen verändern. Genauso legen wir Einspruch ein, wenn Menschen der Zugang zur Arbeit verweigert wird. Orientierung und sozialpolitische Grundlage für unser politisches Handeln sind die Prinzipien und Grundaussagen der Katholischen Soziallehre. Daran erinnert uns Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika "Caritas in veritate": "Die Soziallehre der Kirche hat immer bekräftigt, dass die Gerechtigkeit alle Phasen der Wirtschaftstätigkeit betrifft, da diese stets mit dem Menschen und mit seinen Bedürfnissen zu tun hat. Die Beschaffung von Ressourcen, die Finanzierung, die Produktion, der Konsum und alle übrigen Phasen haben unvermeidbar moralische Folgen. So hat jede wirtschaftliche Entscheidung eine moralische Konsequenz." (Ziff. 37)

Folgende Entwicklungen verfolgt die KAB mit großer Sorge:

  • Die Deregulierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes verändert den Stellenwert der arbeitenden Menschen, die die Last der Anpassung tragen müssen.
  • Infolge dieser Entwicklung nimmt die Verwundbarkeit und Verunsicherung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dramatisch zu. Immer mehr Menschen balancieren auf einem schmalen Grad. Ein Schicksalsschlag – wie Krankheit, Unfall, Scheidung, Behinderung oder natürlich der plötzliche Verlust des Arbeitsplatzes – führt schnell unter die Armutsgrenze.
  • Die Dezentralisierung der betrieblichen Organisation, die Flexibilisierung der Beschäftigung und die Auslagerung der Produktion machen vor keiner Kern- und Stammbelegschaft halt. Dies bewirkt ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit, welches sämtliche Arbeitnehmer in Mitleidenschaft zieht. "Prekarität" ist ein Prozess, der nicht nur auf einige gering entlohnte Beschäftigungsformen begrenzt ist, sondern sich auf das gesamte Erwerbssystem auswirkt. Denn die Unternehmen verwandeln sich mehr und mehr in lose verkoppelte Wertschöpfungsketten mit einem kleiner werdenden Stamm fester Mitarbeiter und einer größer werdenden flexiblen "Reservearmee" aus befristet Beschäftigten, Leiharbeitern, Aushilfskräften, freien Mitarbeitern, Subunternehmern und Praktikanten. Besonders untergraben werden der Betriebsfrieden und die Solidarität der Arbeitnehmer durch die so genannten Werksverträge.
  • Die wachsende Unsicherheit erschwert es, einen längerfristigen, halbwegs realistischen Lebensplan zu entwickeln. Dies hat u. a. auch Folgen für die Familienplanung. Wenn mehr als ein Viertel aller Berufstätigen unter 25 Jahren nur noch einen befristeten Arbeitsvertrag erhält, ist es nicht verwunderlich, wenn die Entscheidung für Ehe und Kinder immer weiter hinausgezögert wird.
  • Der flexibilisierte und deregulierte Kapitalismus untergräbt das Vertrauen in Marktwirtschaft und Demokratie. Aus der sozialen Unsicherheit entsteht eine Gemengelage aus politischem Verdruss und diffuser Angst. Es ist weniger die Angst vor den Risiken des Marktes, sondern mehr vor einer richtungslosen kapitalistischen Dynamik, die durch nichts mehr, auch nicht durch die Politik, gesteuert wird.
  • Enttäuscht sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aber auch, weil sie das Gefühl haben, dass ihre eigene Leistung nicht mehr honoriert wird. Wenn sie genauso viel arbeiten wie die fest angestellten Kollegen an den Arbeitsplätzen nebenan, selber aber nur schlecht verdienende Leiharbeiter sind, dann glauben sie nicht daran, dass sich ihre Leistung lohnt. Wenn gleiche Arbeit nicht mit gleichem Lohn bezahlt wird, fühlen sie sich ungerecht behandelt.

Die Katholische Arbeitnehmer Bewegung München und Freising fordert daher:

  • Nach Jahren des Abbaus von institutionellen und normativen Regelungen muss die Dynamik hin zu atypischen Arbeitsverhältnissen gebrochen werden. Jeder Mensch muss einen menschenwürdigen, gerecht entlohnten Arbeitsplatz finden können. Besonders mahnen wir die Grundsätze der Einbeziehung von Menschen mit Behinderung in die Arbeitswelt an.
  • Die Verdrängung von regulärer Beschäftigung durch prekäre Arbeitsverhältnisse ist zu stoppen. Das Ziel muss sein, dass aus atypischen Arbeitsverhältnissen reguläre, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze entstehen. Diese müssen den errungenen sozialen Standards entsprechen und existenzsichernd entlohnt werden.
  • Der Grundsatz der Gleichbehandlung gilt auch für den Arbeitsmarkt. Das Prinzip "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" darf nicht durch die Leiharbeit ausgehöhlt werden. Für Stammpersonal und Leiharbeiter müssen gleiche Arbeitsbedingungen gelten. Das betrifft nicht nur die Entlohnung, sondern auch die Arbeitnehmerrechte und die Möglichkeiten zur beruflichen Weiterbildung.
  • Es muss nach Lösungen gesucht werden, wie Beschäftigte in atypischen Arbeitsverhältnissen eine ausreichende Alterssicherung erlangen können. Wie im Alterssicherungsmodell der katholischen Verbände gefordert, ist in das Rentensystem eine steuerfinanzierte, existenzsichernde Sockelrente einzuführen, die allen Bürgern zusteht.
  • Mit der 450-Euro-Beschäftigungsform, den Minijobs, subventioniert der Staat Arbeitgeber, die reguläre Arbeitsplätze in atypische und oft prekäre Arbeitsverhältnisse aufspalten. Wenn beispielsweise Rentner oder Studenten etwas hinzuverdienen möchten, so darf dies nicht zu Lasten regulärer Beschäftigung von Arbeitslosen oder Geringqualifizierten gehen. Durch eine Sozialversicherungspflicht ab dem ersten Euro würde diesem Bereich die Dynamik genommen und das Risiko der Altersarmut deutlich gemildert. Hier ist der Staat gefordert, entsprechende Regelungen zu schaffen.
  • Um den Niedriglohnbereich und damit die "Arbeitsarmut" einzudämmen, fordern wir die Einführung des gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlohnes von z. Zt. 9,70 €.

Wir wollen auch handeln:

  • Mit Informations- und Bildungsveranstaltungen werden wir diese Problemlage unseren Mitgliedern und in der Gesellschaft aufzeigen.
  • Wir werden unsere Mitarbeit und Mitgestaltung in örtlichen und regionalen Bündnissen verstärken, besonders bei "München sozial – wir halten die Stadt zusammen", "Sozialforum Rosenheim", "Runder Tisch Kirchen und Gewerkschaften in München".
  • In Gesprächsrunden mit Fachleuten und Politikern werden wir für unsere politischen und sozialethischen Positionen werben.
  • Wir arbeiten an der Umsetzung des Zukunftsbeschlusses vom Würzburger Verbandstag der KAB „Die Zukunft beginnt mit gemeinsamen Aufbrüchen“ mit.

Anmerkung: Was heißt prekär?
lat.: precarius: (1) auf Widerruf gewährt, unsicher, unbeständig
(2) erbeten, erbettelt, aus Gnade erlangt
frz.: précaire: durch Bitten erlangt, widerruflich, unsicher, heikel
"Es gibt keine Erwerbsarbeit, die aufgrund spezifischer Merkmale an und für sich prekär ist."
"Erwerbsarbeit ist nicht alleine schon deshalb prekär, weil sie so ist wie sie ist, sondern weil sie in Relation zu anderen Beschäftigungsformen als prekär bewertet wird."

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